08.04.2013
Im Expertengespräch zur Frage, ob unser Gesundheitssystem fit für die Zukunft ist, kristallisierte sich klar heraus: Vorsorgen ist besser als heilen, weniger Geld bedeutet nicht weniger Gesundheit, an der Bewältigung aktueller und zukünftiger Herausforderungen im Medizinischen Bereich sind alle Akteure gefordert. Und: das persönliche Wohlergehen beginnt nicht erst beim Besuch in der Arztpraxis.
Dr. Ingrid Mair, Praktische Ärztin in Landeck, Univ.-Prof. Dr. Otmar Pachinger, Leiter der Kardiologie der Uniklinik Innsbruck, Univ.-Prof. Dr. Bernhard Güntert, Vorstand des Instituts für Management und Ökonomie im Gesundheitswesen der UMIT, und Dr. Arno Melitopulos, Direktor der TGKK, diskutierten auf Einladung der Standortagentur Tirol und des ORF Tirol im Studio 3 mit dem Publikum über Gegenwart und Zukunft unseres Gesundheitssystems. Dieses sei gut aufgestellt und brauche den europäischen Vergleich nicht zu scheuen, so der Tenor. Im Dreieck von Patient, Arzt und zahlender Sozialversicherung liege aber Potential für Verbesserungen brach: Bei den niedergelassenen Ärzten müssten die Ausbildung gerade um praktische Aspekte vertieft und die Arbeitsbedingungen attraktiver gestaltet werden, etwa durch reizvollere Angebote für Gruppenpraxen, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine ausgewogenere work-life-Balance. Laut Prof. Güntert sei in den kommenden fünf bis zehn Jahren nicht mit einem Ärztemangel zu rechnen – im Gegensatz zu einem bereits jetzt feststellbaren Mangel an Pflegepersonal. Außerdem sei der Beruf des Allgemeinmediziners wenig populär, ebenso wie die Arbeit in ländlichen Gebieten. Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Gruppenpraxen sei ein Ansatz, um dies wettzumachen. Dass die Ausbildung zum Allgemeinmediziner praxisnäher – nämlich der Arztpraxis näher – erfolgen solle, dem stimmten die Experten Dr. Mair zu. Sie forderte neben der fachlichen Ausbildung eine in das Studium integrierte Ausbildung, wie der Alltag in der eigenen Ordination und der damit einhergehende Verwaltungsaufwand zu organisieren ist. Eine eigene Ordination zu eröffnen, dazu brauche es neben der medizinisch-fachlichen Kompetenz und menschlichen Qualitäten für den Umgang mit den Patienten auch unternehmerische Fähigkeiten, die im Studium nicht vermittelt werden, so Mair.
Um die Qualität unseres Gesundheitssystems aufrecht zu erhalten, dürfe nicht am falschen Platz gespart werden, hohe Ausgaben bedeuteten aber nicht automatisch hohen Gesundheitsstatus, wie am Beispiel Dänemark dargestellt wurde: Dänemark habe seinen Bestand an Krankenhäusern auf 28 landesweit reduziert, gleichzeitig den ambulanten Bereich ausgebaut. So sei nicht nur Geld gespart, sondern auch die Effizienz und die Gesundheitsversorgung verbessert worden. Prof. Pachinger wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass höhere Gesundheitsausgaben nicht direkt proportional die Gesundheit der Bevölkerung steigerten. Weit größeres Einsparungspotential sahen die ExpertInnen in dem verbesserten Miteinander der Akteure im Gesundheitsbereich anstatt des derzeitigen Nebeneinanders. Es sei auch nicht Ziel der Gesundheitsreform, die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung zu kürzen. In Summe würden diese Ausgaben auch in Zukunft immer weiter steigen, allerdings sei es notwendig, die jährliche Kostenzunahme auf etwa 3,3 Prozent zu senken, so Dr. Melitopulos.
Tatsächlich werde in der öffentlichen Diskussion aus der Gesundheitsreform eine Finanzierungsreform, bemängelte Dr. Melitopulos. Das Thema Gesundheit könne aber nicht auf die medizinische Versorgung und deren Finanzierbarkeit reduziert werden, schließlich beeinflusse dieser Bereich nur zu 10 Prozent die Gesundheit eines Menschen. Zu jeweils gleichen Teilen, also zu 30 Prozent, sei die persönliche Gesundheit bestimmt vom Lebenswandel, der Vererbung und von Umwelteinflüssen inklusive Faktoren wie Einkommen, Bildung, soziale Herkunft, etc. Deshalb müssten Patienten ihre Anspruchserwartungen überdenken und eine „Buffetmentalität“, wie es Prof. Pachinger nannte, ablegen: Wenn Patienten besser über die Auswirkungen ihres Lebensstils auf ihre Gesundheit und über die Kosten von Behandlungen und Implantaten informiert wären, würde sie das sensibler machen und sie überlegter medizinische Versorgung in Anspruch nehmen lassen. Melitopulos ergänzte, dass Gesundheit nicht bei der Behandlung beginne, sondern bei der Vorsorge. Von den 31 Milliarden Euro, die jährlich aus öffentlichen und privaten Mitteln in das Gesundheitssystem in Österreich fließen, gehen nur drei Prozent in die Vorsorge – viel zu wenig, meinte Melitopulos. Die TKKG gebe jährlich 20 Millionen Euro für Aufklärung und Gesundheitsvorsorge aus. Das Problem dabei: Zwar versuche man, die Bevölkerung direkt im Alltag, im Beruf und in der Schule anzusprechen. Dabei erreiche man aber vor allem jene Personen, die ohnehin für das Thema sensibilisiert seien. Menschen, die wenig auf ihre Gesundheit achten, aus ihrem gewohnten Lebensstil zu holen und für Präventivmaßnahmen zu begeistern, sei eine wahre Herausforderung, so der TKKG-Direktor. Dabei liege hier aber das größte Kostenpotential im Gesundheitswesen, wie Prof. Güntert beipflichtete: Die Statistik zeige, dass die Bevölkerung im Schnitt alle sieben bis acht Jahre ein Lebensjahr gewinne. Entscheidend sei aber, ob dieses Jahr auch ein gesundes Jahr sei, denn mit einer gestiegenen Lebenserwartung steige auch die Zahl der möglichen kranken und besonders teuren Jahre: „Ein krankes Jahr ist ein teures Jahr“; brachte es der Gesundheitsexperte auf den Punkt. Als Vorbild wurde Finnland in diesem Zusammenhang genannt, das durch Prävention innerhalb von 20 Jahren die Herzinfarktrate im Land halbieren konnte.
Um die zukünftigen Herausforderungen optimal angehen zu können und das bestehende System der Gesundheitsvorsorge und –versorgung weiter zu verbessern, dazu brauche es notwendigerweise das koordinierte Zusammenspiel aller Beteiligten, so die Expertenrunde. Die integrierte medizinische Versorgung vor Augen müssen Gesundheitsförderung und Prävention ausgebaut, die Versorgung im ambulanten Bereich gestärkt und der stationäre Bereich in den Spitälern entlastet, die Ausbildung von Pflegepersonal forciert, Effizienzverluste im Gesundheitssystem minimiert und die medizinische Ausbildung attraktiver und praxisnäher gestaltet werden, so der Tenor.
Die Diskussionsrunde „Ist unser Gesundheitssystem fit für die Zukunft?“ war die dritte der Veranstaltungsreihe „Tirol 2030 – Wir denken Zukunft“, die im Zweimonatsrhythmus gemeinsam von der Standortagentur Tirol und dem ORF Tirol ausgerichtet wird. Die bisherigen Diskussionen zum online Nachverfolgen sowie Information zu den kommenden finden Sie unter www.tirol2030.at. Thema und genaues Datum der nächsten Veranstaltung finden Sie dort in Kürze.